Dreizehn: Könnten Sie bitte die Jugendlichen beschreiben, mit denen sie arbeiten und auch darauf eingehen, warum diese nicht oder nicht mehr in die Schule gehen?
Anja Sens: Unsere Jugendlichen sind im achten oder neunten Schuljahr, zwischen 13 und 16 Jahre alt und besuchen seit circa einem halben Jahr nicht mehr die Schule. In den letzten anderthalb Jahren ist dieser Zeitraum stark angestiegen – auf anderthalb bis drei Jahre. Das hängt mit der ausgesetzten Schulpflicht während Corona zusammen und der fehlenden Kontrolle, welche Schüler*innen in Schulen ankommen. Ein Hauptgrund für die Schulverweigerung ist, dass sie nicht wieder in das Bildungssystem zurückfinden. Zusätzlich haben wir die Schulverweigerer*innen, die wir vorher schon hatten, die wegen Mobbing, Missbrauch, Tod von Elternteilen, also Schicksalsschlägen der Schule fernbleiben. Da rückt die Schule in den Hintergrund. Schließlich haben wir Schüler*innen, die überaltert in Klassen sind, weil sie immer wieder nicht versetzt wurden oder, zwar auf Beschluss versetzt wurden, im Unterricht aber nicht mitkommen. Sie sehen irgendwann keinen Sinn mehr in der Schule, weil ein Abschluss für sie, so glauben sie jedenfalls, nicht erreichbar ist.
Dreizehn: Wie gelingt es Ihnen, in Kontakt mit den jungen Menschen zu kommen und dann auch in dieser Beziehungsarbeit im Kontakt zu bleiben?
Anja Sens: Der Kontakt erfolgt meistens durch Empfehlungen über die Schulen oder über das Jugendamt. Dann nehmen die Eltern oder Betreuer*innen Kontakt zu uns auf und wir machen ein Vorstellungsgespräch. Dabei zeigen wir, was sie bei uns machen können, und versuchen schon im Erstgespräch Vertrauen aufzubauen. Die Jugendlichen müssen eine Bewerbung schreiben, bei der sie vier Grundfragen beantworten sollen:
- Welche Gründe hast du, momentan nicht an deine Schule zurückzugehen?
- Welche Fähigkeiten solltest du in der Jugendwerkstatt TAKE OFF erlernen, um deinen Hauptschulabschluss schaffen zu können?
- Welche Hilfestellungen erwartest du von den Pädagogen des Projektes?
- Was bist du selbst bereit, für eine erfolgreiche Schulpflichterfüllung bei TAKE OFF zu tun?
Für uns ist wichtig, dass sie selbst den Weg zu uns finden. Wenn sie nicht bereit sind, sich auf den Weg zu machen, haben wir keine Chance, ihnen zu helfen. Meistens ist schon ein Hilfesystem in den Familien und dieses wendet sich an uns und vermittelt.
Wir machen regelmäßig Förderplangespräche und Einzelgespräche nach Bedarf. Mindestens alle sechs Wochen hat jede*r ein Einzelgespräch mit einem*r Mitarbeiter*in seiner Wahl. Es geht um Beziehungsarbeit. Wir nutzen viel Erlebnispädagogik, an der wir uns immer beteiligen. Wir gehen mit zum Klettern und klettern auch mit. Dabei werden wir menschlich greifbar, indem wir alles, was wir ihnen abverlangen, selbst mitmachen. Das schafft viel Beziehung. Dieses Vorleben von Normen, Werten und ja, Dinge aushalten.
Die Beziehungsarbeit geht weiter, indem das ganze System versucht sie abzuholen und mit ihnen zu arbeiten. Auch nach der Maßnahme sind wir noch als Ansprechpartner*innen da. Trotzdem müssen sie irgendwann loslassen und auch ohne uns „funktionieren“. Deswegen arbeiten wir möglichst immer mit dem gesamten System. Der Aufbau der Beziehung zwischen den Eltern und der Schule ist in den meisten Fällen schwieriger, weil sie viele schlechte Erfahrungen mit der Schule haben. Wir versuchen anfangs nicht auf die Unzulänglichkeiten einzugehen, sondern machen viel über Wertschätzung und „einfach nur miteinander reden“. Regelmäßig bieten wir Nachmittage für die Schüler*innen und Eltern an, bei denen wir bei Kaffee und Kuchen zusammensitzen und miteinander reden. Alle gemeinsam, auch die Eltern untereinander. Diese sind häufig die besten Berater*innen untereinander. Sie haben Kinder mit denselben Problematiken und haben eigene Strategien entwickelt. Über diese positiven gemeinsamen Aktivitäten wird Vertrauen aufgebaut. Und so verändert sich ihr Bild von der Schule und alles, was damit zusammenhängt, nach und nach.
Zwei Lehrkräfte sind an der Schule angestellt und kommen jeweils zwei Tage pro Woche zu uns. Sie beteiligen die sich genauso an den Aktivitäten.
Dreizehn: Können Sie beschreiben, wie so ein typischer Arbeitsalltag ist und wie Sie dann auch Lernmöglichkeiten gestalten. Also wie ist jetzt diese praktische Arbeit integriert?
Anja Sens: Um 8:15 Uhr machen wir Morgenkreis mit den Jugendlichen und von 8:30 bis 13:00 Uhr Unterricht. Das sind 4 bis 5 Unterrichtsstunden und dazwischen haben wir ein Frühstück. Das gehört bei uns zum Konzept, gemeinsam frühstücken und miteinander reden. Dabei vermitteln wir automatisch die Tischsitten, die viele nicht kennen. Ab 13:00 Uhr machen wir Teambesprechung, Supervision, Elterngespräche, Gespräche mit Schulen und alles, was administrativ zu erledigen ist. Teils unternehmen wir mit einzelnen Schüler*innen, die noch da sind, etwas. Unterricht bieten wir an in Mathe, Deutsch, Englisch, Gemeinschaftskunde, in den Naturwissenschaften, Sport und Kompetenztraining. Zusätzlich haben wir die Werkstatt, wo die Jugendlichen praktisch arbeiten können, in ganz vielen verschiedenen Bereichen: Man kann im Garten, in einer Holzwerkstatt, einer Metallwerkstatt und einer Töpferwerkstatt arbeiten. Die Jugendlichen können kreativ werden und es findet sich für jede*n etwas, wo er*sie gut ist. So können sie Selbstbewusstsein tanken, weil sie Dinge schaffen. Zwei Stunden Werkstattarbeit sind zweimal in der Woche im normalen Stundenplan enthalten.
Dreizehn: Wie kooperieren Sie mit den Schulen und wer sind dort Ihre Ansprechpartner*innen?
Anja Sens: Die Kooperation läuft bei uns hauptsächlich übers Schulamt. Da gibt es eine Referentin, die für Schulverweigerer*innen, Schulschwänzer*innen und Integration zuständig ist. Die Maßnahmen müssen durch das Schulamt genehmigt werden. Da wird geprüft, ob das wirklich Schulverweigerer*innen sind, ob das Konzept passt oder ob andere Dinge eine Rolle spielen und eigentlich andere Maßnahmen greifen müssen. Wir sind sehr dankbar dafür, dass wir in ihr eine gute Kooperationspartnerin haben. Diejenigen, die bei uns sind, bleiben Schüler*innen ihrer Schule. Das ist ähnlich wie bei einem Praktikum, nur dass es eben für ein ganzes Schuljahr ist. Manchmal können einzelne wieder in die Schule zurück, wenn wir rausgefunden haben, wo die Grundproblematik liegt.
Manchmal bietet sich ein Schulwechsel an, je nach Problematik. Meistens arbeiten wir mit den Schulleiter*innen direkt oder mit den Schulsozialarbeiter*innen in den Schulen zusammen, wenn es um die Förderplanung geht.
Die meisten unserer Schüler*innen gehen nach uns in die Berufsvorbereitung, um in einem oder zwei Jahren den Hauptschulabschluss nachzuholen.
Dreizehn: Welche Erfolge sehen Sie in Ihrer Arbeit und worauf führen Sie sie zurück?
Anja Sens: Erfolg ist schon, wenn die Schüler*innen gerne zu uns kommen, obwohl sie nicht in die Schule gegangen sind. Dasselbe gilt auch für die Eltern, die fast nie zu Terminen in der Schule gegangen sind. Bei uns sind ab dem zweiten Nachmittag 90 % der Eltern da. Also wir merken, wir erreichen die jungen Menschen und ihre Familien. Von vielen bekommen wir die Rückmeldung, dass sie das „geschafft“ haben. Was für uns die größte Anerkennung ist, dass relativ viele Schüler*innen immer wieder zurückkommen und uns an ihrem Leben teilhaben lassen. Sie kommen z. B., wenn sie ihren Abschluss gemacht, ihre Ausbildung beendet haben oder ein Kind geboren wurde.
Dreizehn: Worauf führen Sie es zurück, dass die Kinder oder die Jugendlichen gerne wiederkommen?
Anja Sens: Ja, ich denke, das liegt daran, dass wir eben so eine gute Beziehung aufbauen, dass sie Vertrauen zu uns haben und wir noch lange Ansprechpartner*innen sind. Sie verknüpfen nichts Negatives mit uns, sondern wir waren ein Punkt auf ihrem Weg, der sie ein Stück vorwärtsgebracht hat. Ich denke, das ist der Hauptpunkt, die Beziehungsarbeit.