Interview – die 2. Chance – temporäre Lerngruppe

Dreizehn: Könnten Sie bitte die Jugendlichen beschreiben, mit denen sie arbeiten?

Beate Martens: Die Jugendlichen sind 12 bis 16 Jahre alt und gehen in die siebte bis neunte Schulklasse. Es sind sowohl Schüler*innen, die die Schule zum Teil schon sehr lange nicht mehr besuchen oder nur sporadisch, als auch solche, die zwar zur Schule gehen, aber die Mitarbeit und jede Kommunikation im Unterricht verweigern und die uns von den Schulen geschickt werden. Es sind Jugendliche, die viele biografische Brüche hatten, ob in der Familie oder durch häufige Schulwechsel. Oft haben sie kein Vertrauen mehr zu Erwachsenen. Wir haben es mit sehr komplexen Problemlagen zu tun, vor allem mit psychosozialen Beeinträchtigungen.

Dreizehn: Warum gehen die jungen Menschen nicht mehr in die Schule?

Beate Martens: Die Gründe sind so unterschiedlich wie die Jugendlichen, die zu uns kommen. Grundsätzlich fehlt die Verbindung zu den Lehrkräften, teilweise auch zur Schulsozialarbeit. Sie sind häufig sehr schlecht oder gar nicht in ihre Schulklasse integriert, haben Schwierigkeiten mit Mitschüler*innen und Lehrkräften und haben verschiedene Versagenserfahrungen, fühlen sich nicht so gut wahr- und angenommen. Dann ist es attraktiv, der Schule fernzubleiben. Die Versagenserfahrungen sind schlechte Noten, viel Ärger, Fehlverhalten, das ihnen vorgeworfen wird. So entwickelt sich das Gefühl, ich kann nichts, ich bin hier nicht richtig, ich bin hier nicht willkommen.

Dreizehn: Wie gelingt es Ihnen, dennoch in Kontakt mit den jungen Menschen zu kommen?

Beate Martens: Die Schüler*innen werden für unsere Lerngruppe vorgeschlagen von der Klassenleitung, der Schulsozialarbeit oder vom regionalen Beratungszentrum. Wir führen Kennenlerngespräche mit ihnen und ihren Eltern durch und bitten die Schüler*innen, sich gut zu überlegen, ob sie kommen möchten oder nicht, und uns persönlich am nächsten oder übernächsten Tag eine Rückmeldung zu geben. Die Schüler*innen sind in der Regel 1 bis 2 Jahre bei uns. Dafür muss die Motivation da sein, zu sagen, ich möchte irgendwas verändern.

Zu Beginn können sie in ihrem eigenen Tempo bei uns ankommen. Zum Beispiel können sie zunächst nur einige Tage pro Woche kommen. Trotzdem besteht der Anspruch, dass sie an fünf Tagen kommen. Wir zeigen ihnen von Anfang an, du bist hier wichtig, dich wollen wir hier haben und wir hören zu und nehmen auf das Rücksicht, was du mitbringst und was du brauchst.

Am Anfang geht es in erster Linie darum, sie zu halten. Erst mal geht es darum, sie auszuhalten, weil sie die Beziehung zu den Mitarbeitenden auf die Probe stellen, indem sie sich über alle Regeln hinwegsetzen. Wir bleiben aber kontinuierlich dran: „Wir sind wirklich an dir interessiert.“ Das ist eigentlich das Erfolgsrezept für den Anfang, eine Bindung aufzubauen, Vertrauen aufzubauen, Beziehungsarbeit.

Dreizehn: Wie sieht bei Ihnen ein typischer Arbeitsalltag aus?

Beate Martens: Die Jugendlichen kommen, wenn alles gut geht, um 9:30 Uhr. Dann haben wir eine Ankommensphase mit einem Spiel, gemeinsamem Frühstück. Gegen 10:00 Uhr beginnen die Unterrichtszeiten. In Lerneinheiten von circa 30 Minuten werden in erster Linie die Hauptfächer Mathe, Deutsch, Englisch unterrichtet. Nach der gemeinsamen Mittagspause geht es am Nachmittag weiter. Unterrichtsgeschehen und Freizeitgestaltung lassen sich nicht unbedingt trennen.

Wenn ein*e Schüler*in nicht in die Gruppe kann oder ein anderes Thema hat, wird individuell begleitet. So geht es bis 14:30 Uhr und dann gehen die Jugendlichen in der Regel nach Hause und die Mitarbeitenden setzen sich zusammen. Sie tauschen sich aus über den Tag, es gibt Besprechungen, Teamsitzungen oder Termine mit Lehrkräften oder mit älteren Schüler*innen.

Dabei arbeiten wir situativ: Beispielsweise können die Schüler*innen individuell an Lernmaterialien arbeiten. Andere halten 30 Minuten nicht durch, verlassen den Gruppenraum und arbeiten mit einem*r anderen Kolleg*in. Möglicherweise sagen wir auch: „Okay, irgendwas klappt bei dir heute nicht, lass uns einen kleinen Spaziergang machen.“ Wir haben immer einen Blick auf die Schüler*innen, auf das Thema des Unterrichts oder des Projektes und immer auf die Gruppe und den Einzelnen.

Dreizehn: Wie gestalten Sie die Lernmöglichkeiten?

Beate Martens: Wir arbeiten viel in der Gruppe und gleichzeitig individuell. Diejenigen, die demnächst wieder in ihre Schule wollen, arbeiten intensiver an ihrem Lernstoff. Wir arbeiten möglichst praktisch, lebenslagen- und handlungsorientiert. Neben den Hauptfächern haben wir Kunstangebote und eine Werkstatt und setzen auch digitale Lernplattform ein. Es geht darum, Schritt für Schritt wieder ins Lernen zu kommen, ein bisschen Spaß daran zu haben und zu merken: „Mensch, ich kann etwas!“

Dreizehn: Wie kooperieren Sie mit den Schulen?

Beate Martens: Wir kooperieren so eng wie möglich mit acht Schulen. Unser Auftrag ist die Reintegration der Schüler*innen in ihre Stammschule. Die Jugendlichen bleiben Schüler*innen ihrer Schule. Es gibt eine schriftliche Vereinbarung mit der Schule, in der dieses Ziel der Reintegration klar formuliert und auch abgesprochen wird, wie der Kontakt gehalten wird in der Zeit, wenn der*die Schüler*in bei uns ist. Es gibt einen regelmäßigen Informationsaustausch, insbesondere über die Klassenleitung. Diese Beziehung Schule – Schüler*in muss auf jeden Fall bleiben. Das klappt mal ganz gut, mal ist es ein bisschen schwieriger, je nachdem, was vorher in der Schule vorgefallen und wie die Beziehung ist.

Dreizehn: Was müsste sich an der Schule ändern, um diese jungen Menschen besser aufzufangen bzw. zu unterstützen?

Beate Martens: Es ist hilfreich für die Schüler*innen, wenn ihre Lehrkräfte für diese ganze Thematik schwieriges Verhalten in der Schule sensibilisiert sind und wenn das Schulklima es hergibt, dass Lehrkräfte sich darüber austauschen können, einen guten Blick auf ihre Klasse bewahren und versuchen, Bagatellisierungen zu vermeiden. Diese sind nicht hilfreich, weil sie den Schüler*innen den Eindruck vermitteln, dass es nicht wirklich interessiert, ob sie in der Schule sind oder nicht. Das Gleiche gilt für die sozialen Bezüge in der Klasse und in der Schule, also auch verhärtete Konflikte, die manchmal nicht ernst genommen werden, weil man sagt: Na ja, das ist ja auch normal in dem Alter. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass Lehrkräfte, Schulsozialarbeit und Schule da frühzeitig genau hinschauen und diese ansprechen. Es gilt, sich einen frischen Blick zu bewahren, die Ressourcen der Jugendlichen zu fördern und somit auch Erfolgserlebnisse zu schaffen. Und ebenso immer individuell zu schauen, was könnte der Grund für das Verhalten oder aber auch die Abwesenheit der Schüler*innen sein und dem auf den Grund zu gehen und sich auch selbst Unterstützung zu holen. Außerschulisch oder mit den Eltern gut zu kooperieren, möglichst auf Augenhöhe und wertschätzend und nicht nur immer dann, wenn es mal gerade nicht so gut läuft.

Dreizehn: Welche Erfolge und welche besonderen Herausforderungen sehen Sie in Ihrer Arbeit?

Beate Martens: Ich sehe tatsächlich viele Erfolge. In Zahlen ausgedrückt, gehen 80 % unserer Schüler*innen in die Schule zurück und kommen da in der Regel auch ganz gut an. Wenn die Rückkehr schwerfällt, können wir wieder eine Brücke bauen. Ganz wichtig ist die Beteiligung der Jugendlichen in dem Gesamtprozess. Wir nehmen keine Kontakte in die Schule auf, ohne das vorher mit den Jugendlichen zu besprechen. Sie werden immer informiert und sind involviert.

Wir haben für jeden Jugendlichen eine*n Case-Manager*in, der*die alle Schnittstellen bearbeitet. Das sind die Eltern, die Schule, das Hilfesystem, Familienhilfe, manchmal andere Beratungsstellen. Dieses Casemanagement entwickelt im Laufe der Zeit bei allen Beteiligten ein gemeinsames Verständnis. Das ist auch ein wichtiger Erfolgsfaktor.

Die besonderen Herausforderungen sind, dass die Jugendlichen aus sehr vielfältigen Gründen zu uns kommen. Zum einen diejenigen, die laut sind, provozieren, Konflikte suchen. Zum anderen haben wir immer mehr Schüler*innen mit Angststörungen und die, die sich isoliert haben. Diese Schüler*innen brauchen etwas anderes und haben Angst vor der Gruppe. Das ist für uns alle ein riesiger Spagat.

Dreizehn: Vielen Dank für das Gespräch.